VITTORIA COLONNA UND MICHELANGELO SIEBEN, SPONTANE, UNDATIERTE BRIEFE als vernachlässigbar verworfen und dennoch die EINZIGEN AUTHENTISCHEN DOKUMENTE der INNEREN DYNAMIK IHRER PERSÖNLICHEN FREUNDSCHAFT in den Jahren 1541-1543.   EINE FUNDGRUBE für EMPIRISCHE FORSCHUNG ihrer Beziehung Michelangelos zwei Briefe an Vittoria Colonna und Vittoria Colonnas fünf Briefe an Michelangelo begleiten VITTORIA COLONNAS BESUCHE 1538-1541 in der SIXTINISCHEN KAPELLE, während Michelangelo das JÜNGSTE GERICHT schuf und 1542-1543 in der Paulinischen Kapelle, während er die BEKEHRUNG des HEILIGEN PAULUS bearbeitete.

Dass Michelangelo persönlichen Kontakt mit Vittoria Colonna während seines Schaffens Prozesses suchte, ist nicht zufällig. Die Schöpfung des monumentalen Gemäldes laugte seine Kräfte aus. Inmitten der Verdammten entdeckt der Betrachter eine leere menschliche Haut mit den Zügen Michelangelos.

Was ihm besonders unter die Haut ging, war der vielstimmige Sturm der Entrüstung über die schamlose Nacktheit seiner Figuren. Biaggio da Cesena, der päpstliche Zeremonienmeister fand sie passender für eine öffentliche Badestube als für den Vatikan. Obwohl Michelangelo Cesena mitten in eine Gruppe von Teufeln platzierte mit einer erdrückenden Schlange um den Bauch, wurde er von metaphysischen Ängsten gequält.

Anthony Blunt: „The monumental fresco is the work of a man, who is shaken out of his self-assurance, who does not feel at home anymore in the material world, but is longing for spirituality”

Spiritualität hoffte Michelangelo mit Hilfe Vittoria Colonnas, seiner spirituellen Mentorin, zu erlangen. Auf die Rückseite seines ersten erhaltenen Briefes an sie, dichtete Michelangelo ein Madrigal, in dem er ihr ein leeres Blatt Papier reicht, damit sie ihm ihren hilfreichen Rat für seine verzweifelte Suche nach Rettung schriftlich erteilen könne.

MICHELANGELO à VITTORIA COLONNA MADRIGALE            Ora in sul destro, ora in sul manco piede variando, cerco dell mie salute. Fra ´l vizio e la virtute Il cor confuso mi travaglia e stanca come chi ´l ciel non vede, che per ogni sentier si perde e manca.   Porgo la carta bianca a´vostri sacri inchiostri c` amor mi sganni e pietà ´l ver ne scriva: non pieghi agli errori nostri mie breve resto, e che men cieco viva.   Chieggio a voi , Alta e Diva Donna, saper se ´n Ciel men grado tiene ‘l umil peccato ch ´l superchio bene.
MADRIGAL MICHELANGELO an VITTORIA COLONNA   Vom rechten auf den linken Fuß wankend, suche ich mein HEIL. Zwischen Tugend und Laster schwankend, ermüdet und quält mich mein verwirrtes Herz; wie sich auf jedem Pfad verliert und verirrt, wer den Himmel nicht sieht.   Ich reiche das weiße Blatt Papier Eurer heiligen Tinte, damit Liebe mich befreie und Mitleid die Wahrheit darauf schreibe, so dass die Seele, an sich frei, sich nicht in meinem kurzen Lebensrest unserem Irren beuge und ich weniger blind lebe.   Ich möchte von Euch, hohe, göttliche Dame wissen, ob im Himmel der demütige Sünder auf einer niedrigeren Stufe steht als der hochmütige Gute.
MICHELANGELO IDEALISIERT VITTORIA COLONNA IN SEINER DICHTUNG     Ein Mann in einer Frau, sogar ein Gott spricht aus ihrem Mund. Höre ich ihr zu, dann werde ich verwandelt, Ich werde nicht mehr ich selbst sein!   Ich glaube, dass ich, von ihr aus meinem Selbst befreit, Mitleid mit mir haben kann   Jenseits eitlen Begehrens begeistert mich ihr schönes Gesicht, so dass ich den Tod in jeder anderen Schönheit erblicke.   O, Donna, die Ihr durch Wasser und Feuer zu einem heiteren Tag schreitet, lasst mich nicht zu mir selbst zurückkehren.

VITTORIA COLONNA IN DEN AUGEN MICHELANGELOS

ist die vergeistigte Frau, die begeistert und begeisternd, von Wasser und Feuer von ihrer Körperlichkeit gereinigt in den lichten Tag einer rein geistigen Existenz entschwebt.

So ätherisch ist sie, dass sich Michelangelo naiv wundert:

Wie kann es sein, Signora, dass Ihr trotz Eurer göttlichen Schönheit esst und schlaft und sprecht wie ein sterbliches Wesen unter uns?

Vittoria ist den Sibyllen artverwandt, die Michelangelo ein Jahrzehnt zuvor den männlichen Propheten in der Decke der Sixtinischen Kapelle hinzugefügt hat. Jedoch sie soll nicht Michelangelos Sibylle auf seiner Pilgerschaft in den Himmel sein. Sie ist nicht mit Beatrice vergleichbar, weil, anders als Dante, Michelangelo keine Reisegefährtin im Jenseits sucht.

Michelangelo begehrt, dass sich das Versprechen des Himmels hier und jetzt erfülle und sogleich in Vittorias Gegenwart, in die er sich drängt, um sich in ihr Gesicht zu versenken, in ihre Augen. Er muss sie sehen.

VITTORIA COLONNA und MICHELANGELO WIN-WIN FREUNDSCHAFT VITTORIA COLONNAS HUMANISTISCHE MADONNA an der Seite IHRES GÖTTLICHEN SOHNES in MICHELANGELOS FRESCO des JÜNGSTEN GERICHTS In der SIXTINISCHEN KAPELLE PUBLICITY trotz INQUISITION  

Voll bewusst, dass die gedruckte Publikation ihres revolutionierenden, häretischen

REMAKE der HEILIGEN JUNGFRAU MARIA

die INQUISITION schockieren würde, vertraute Vittoria Colonna ihre innovative Mariologie nur vertrauenswürdigen Freundinnen an. Costanza Piccolomini, der Herzogin von Amalfi, die sie als ihren Erhabenen Geist adressierte, versicherte sie (wider besseres Wissen?)

„Soavemente nella usata chiesa mi rappresenti”

Aber im gleichen Atemzug vergewisserte sie sich selbst, dass sie sich auf Costanzas Loyalität verlassen konnte „ Essendo con voi sicura di calonnia ed maligna intenzione.“

Vittorias Vorsicht war eine Notwendigkeit. Die Formung des Bildes der Gottesmutter war immer ein Privileg der Kirche. Vittoria Colonna war die erste Frau, die sich ihr eigenes Muttergottes Bild schuf, indem sie der rigiden Ikone neue Lebensfülle einhauchte. Während die offizielle Kirche Maria zur Magd des Herrn reduzierte und Vittorias reformierte Freunde (Ochino!) sie als eine einfache Frau darstellten, privilegierte Vittoria Colonna die Mutter Gottes mit der Intelligenz und dem Ethos einer Humanistin und natürlich betrachtete sie ihre Himmelfahrt als Beweis ihrer Göttlichkeit.

Vor allem aber, jubilierte die Ontologin, dass diese einzigartige Frau mit göttlichen und menschlichen Seinsweisen ausgestattet war und folgerichtig erwählte sie die Gottesmutter als Trustee für das Erbe ihres göttlichen Sohnes auf Erden.

In ihrem Brief an die Herzogin von Amalfi, legt Vittoria Colonna in schwungvoller Rhetorik ihr feministisches REMAKE der Jungfrau Maria dar. Als einzige Frau habe sie Anteil an der menschlichen und göttlichen Natur. Sie verkörpere Leben in Fülle, die dem männlichen Geschlecht vorenthalten werde, argumentiert sie und steigert mit rhetorischem Schwung ihre Lebensfülle, die Gottes Füllhorn über die Mutter seines Sohnes ausgoss.

MICHELANGELOS DARSTELLUNG der HÄRETISCHEN GOTTESMUTTER VITTORIA COLONNAS in SEINEM JÜNGSTEN GERICHT mit der Schwierigkeit ihrer Integration bewältigt (?) von VITTORIA COLONNAS NARRATIVEM SUBSTRAT

 

 

Während in mittelalterlichen Gemälden des Jüngsten Gerichts, die demütige Gottesmutter, eine rigide Ikone, an der Seite Jesu Christi, des Richters der Menschheit, kniet, platzierte Michelangelo Vittorias HUMANISTISCHE GOTTESMUTTER auf gleiche Höhe neben ihren Sohn und umgab Mutter und Sohn mit einer Mandorla, die bisher Jesu Christi allein vorbehalten war als dem PANKRATOR in mittelalterlichen Fresken.

Im Gegensatz zu der erstarrten Zeitlosigkeit der mittelalterlichen Bilder, wählte Michelangelo zur Belebung seines Freskos eine momentane Situation des Jüngsten Gerichtes, natürlich den spannendsten Augenblick, wenn der Weltenrichter  von seinem Sitz aufspringt ,seinen kraftvollen Arm in einer zornigen Drohgebärde ausstreckt, um in der nächsten Sekunde sein Urteil über die sündige Menschheit zu fällen, während Maria, der ihr Platz neben ihrem Sohn von Michelangelo gewährt worden war, auf ihrem Platz verharrt, wenn auch in einer schwebenden Körperhaltung, die ihren überirdischen Status andeutet.

Eigentlich funktionslos, wäre die Gottesmutter ein Störfaktor in Michelangelos Jüngstem Gericht, hätte Vittoria Colonna nicht den Künstler eine offensichtlich tadelnde Haltung Marias in die Körpersprache der Humanistischen Gottesmutter integrieren lassen: In einer Geste, die ihren Selbstschutz  vor ihrem im Zorn richtenden Sohn zum Ausdruck bringt, kreuzt die  neuartige Maria, der Michelangelo Vittorias Gesichtszüge  verlieh, ihre schönen Hände über ihrer Brust, um ihren SELBST-BESTIMMTEN HUMANISMUS gegen ihren vor Zorn rasenden göttlichen Sohn zu demonstrieren, von dem sie ihr Gesicht abkehrt, um sich solidarisch den armen Seelen auf ihrer anderen Seite zuzuwenden.

Die NEUARTIGE MADONNA, die Michelangelo auf Vittorias Wunsch neben den Göttlichen Richter platzierte, stellt nicht nur ihre Gesichtszüge zur Schau. Sie verkörpert Vittorias Remake der Heiligen Jungfrau als eine selbstbewusste Humanistin, die in ihrer körperlichen Haltung keinen Zweifel lässt an ihrem Missfallen, als sich ihr göttlicher Sohn anschickt, die Menschheit im Zorn zu verurteilen.

Dass die, ihren göttlichen Sohn tadelnde, Mutter sich ihm moralisch überordnet und dadurch die Allmacht des Weltenrichters schwächt, die Michelangelo in ihrer vollen Auswirkung in diesem Gemälde thematisierte, war Vittoria Colonna wohl nicht bewusst!

Michelangelo, der ihr trotzdem gefällig war, erhoffte sich von ihr als Dank liebevolle Empathie in seiner seelischen Not!

SIEBEN SPONTANE BRIEFE, SECHS DAVON UNDATIERT, registrieren die INNERE DYNAMIK der BEZIEHUNG zwischen MICHELANGELO und VITTORIA COLONNA in den Jahren 1541 bis 1543, als der Künstler in der SIXTINISCHEN KAPELLE das JÜNGSTE GERICHT schuf, und dann in der PAULINISCHEN KAPELLE die BEKEHRUNG DES HEILIGEN PAULUS.
DIE GESCHENKZEICHNUNG DES LEBENDEN KRUZIFIXUS für VITTORIA COLONNA als STEIN DES ANSTOSSES in MICHELANGELOS ERSTEM BRIEF an die MARCHESA 1541 (?)

Trustee: Britisches Museum, London, AN 18429001
Wiedergabe mit Genehmigung des Britischen Museums
DER ERSTE ERHALTEN GEBLIEBENE BRIEF MICHELANGELOS an VITTORIA Colonna und schon Grund zur Verärgerung IRGEND WANN IN DER ENDPHASE DES JÜNSTEN GERICHTS vermutlich 1541

Es ist nicht fair, wenn ich in Rom bin, dass es Euch einfällt, den Kruzifixus Meister Tommaso zu überlassen und ihn zum Mittler zwischen Eurer Herrlichkeit und mir selbst zu machen, eurem Diener, damit ich Euch zu Diensten bin, da ich doch so sehr gewünscht habe, mehr für Euch zu tun als für irgendeinen Menschen, den ich je auf Erden gekannt habe. Aber die große Tätigkeit, die mich in Anspruch nahm und immer noch in Anspruch nimmt, hat verhindert dies Eure Herrlichkeit wissen zu lassen.

Und weil ich weiß, dass Ihr wisst, dass Liebe nicht belehrt zu werden braucht und dass der Liebende nicht schläft, hätte es niemals, niemals solcher Mittel bedurft. Und wenn es auch den Anschein hatte, als erinnerte ich mich nicht, so vollbrachte ich dennoch, wovon ich nicht sprach, um mich mit einer Überraschung bei Euch einzufinden. Nun ist meine Absicht vereitelt worden. Nicht recht handelt, wer solche Treue vergisst.

Der Diener Eurer Majestät
Michelangelo Buonarroti

Der ungehaltene Ton des Briefes macht es deutlich: Michelangelo scheut sich nicht, der Fürstin die Leviten zu lesen. Um rascher in den Besitz der Zeichnung zu gelangen, hatte sie Tommaso de Cavalieri eingeschaltet, wohl wissend, wie nahe dieser Lieblingsschüler Michelangelo stand.

Nicht sehr beindruckt von seiner Standpauke, schaltet sie erneut Vermittler (mezzani) ein, um die Zeichnung wieder in ihre Hände gelangen zu lassen: Wieder bat sie Michelangelo, ihr die Zeichnung auszuleihen, dieses Mal, um sie den Gefolgsleuten des Ercole Gonzaga, des Bischofs von Mantua zu zeigen. Um ihn gnädig zu stimmen, lädt sie ihn am gleichen Tag zu einem unterhaltsamen Gespräch in ihr Haus ein, wohl wissend, wie er sich nach seinem Besuch bei ihr sehnt.


Trustee: Casa Buonarroti, Florenz. AB IX507 tif.
Mit schriftlicher Genehmigung des Museums

Cordialissimo mio Signor Michelangelo! Ich bitte Euch, mir den Kruzifixus eine kurze Zeit zu überlassen, auch wenn er noch nicht vollendet ist, weil ich ihn der Gefolgschaft des Hochwürdigen Kardinals von Mantua zeigen möchte.
Falls Ihr heute nicht beschäftigt seid, könnt Ihr bei mir vorbeischauen und Euch mit mir unterhalten, wie es Euch beliebt.

Ve prego me mandiate un poco il Crucifixo, se ben non è fornito,
Perchè il vorria mostrare a’ gentilhomini del reverendissimo cardinal de Mantua;
Et se voi non seti in lavoro, potresti venir a parlarmi con vostra comodità.
Al commando vostro
La Marchesa de Pescara

VITTORIA COLONNAS JUBILIERENDER BRIEF an MICHELANGELO Ho hauta la vostra et visto il Crucifige

Unico Maestro Michelangelo
et Mio Singolarissimo Amico

Ich habe Euren Brief erhalten und Ich habe die Zeichnung des Gekreuzigten gesehen, die in meinem Geist alle anderen Bilder gekreuzigt hat, die ich jemals angeschaut habe.  Man kann sich keine lebendigere, vollkommenere Zeichnung vorstellen. Gewiss könnte ich nicht die Feinheit der Ausarbeitung erklären. Deshalb bin ich entschlossen sie nicht von einer anderen Hand kopieren zu lassen. Sagt es mir gerade heraus! Wenn die Zeichnung jemandem anderen gehört, übe ich mich in Geduld. Aber, wenn sie Euch gehört, werde ich eine Möglichkeit ersinnen, sie Euch zu entführen. Aber wenn die Zeichnung Euch nicht gehört und Ihr beabsichtigt, sie von einem Gehilfen ausführen zu lassen, bitte, das lasst uns erst besprechen.
   Weil sie sehr schwer zu kopieren ist, werde ich mich entscheiden, ihn etwas anderes machen zu lassen aber nicht diese Zeichnung. Jedoch, wenn sie Euch gehört, bitte, übt Nachsicht, weil ich dann völlig dagegen bin, sie Euch zurückzugeben.
   Ich habe sie angeschaut im Licht und durch das Vergrößerungsglas und in einem Spiegel und ich habe niemals etwas Vollkommeneres gesehen.

Zu Eurem Befehl!
Die Marchesa von Pescara

Vittoria Colonna preist Michelangelos Lebenden Christus am Kreuz in den höchsten Tönen als einen Superlativ, der alle anderen Bilder des Gekreuzigten in ihrem Geist „gekreuzigt“ hat. Welch ein gewagtes Wortspiel! Welch eine Beleidigung der mittelalterlichen Andachtsbilder des ECCE HOMO, den sie als masochistisch ablehnt.

In ihrer Aufregung erwähnt sie nur die Lebendigkeit des Gekreuzigten, ohne sich in Michelangelos revolutionäre Darstellung des Gekreuzigten mit dem Idealkörper eines griechischen Gottes zu vertiefen.

Im Augenblick ist sie zu aufgeregt, um ihre Eindrücke zu reflektieren. Vielleicht lieh ihr Michelangelo die Zeichnung nur, um sie der Gefolgschaft des Kardinals Ercole Gonzaga zu zeigen, ohne ihr die Geschenkzeichnung zu überreichen, um sie auf die Folter zu spannen. Verunsichert durch Michelangelo, spielt sie diese Eventualitäten durch:

Wenn die Zeichnung schon jemandem anderen gehört, will sie sich in Geduld üben. Energisch weist sie die Kopie eines Schülers zurück. Gehört die Zeichnung aber noch Michelangelo, dann wird sie ihm diese nicht zurückgeben, sondern einen Weg finden, sie in ihren Besitz zu bekommen.

Während Vittoria Colonna in diesem Brief den Eindruck einer gierigen aristokratischen Kunstsammlerin erweckt, die sie tatsächlich verkörpert, erregt sie in dem nächsten Brief, der nicht lange auf sich warten ließ, unser Erstaunen über ihre philosophische Definition des Genies Michelangelos, die frappierende Parallelen zur Definition des Genies durch Arthur Schoppenhauer aufweist.

VITTORIA COLONNA VERDANKEN WIR DIE EINZIGE GANZHEITLICHE DEFINITION DES GENIES MICHELANGELOS BIS HEUTE IN IHREM NÄCHSTEN SPONTANEN BRIEF, während im zweiten Teil des Briefes sie sich über Michelangelo amüsiert, der zwei weinende Engel rechts und links neben den LEBENDEN GEKREUZIGTEN mit dem IDEALKÖRPER eines GRIECHISCHEN GOTTES platzierte.

VITTORIA COLONNA an Michelangelo:

Euere Schöpfungen verbessern en force das Urteil des Betrachters. Um meine Behauptung klarzustellen, sprach ich von der Verbesserung der vollkommenen Dinge. Nachdem ich gesehen hatte, dass dem Gläubigen alles möglich ist, setzte ich mein Vertrauen auf Gott, dass er Euch die übernatürliche Gnade schenken möge, diesen Gekreuzigten zu schaffen und er erschien mir so wunderbar, dass Euer Werk meine Erwartungen bei weitem übertraf.

Ermutigt durch solche Wunder, bat ich um das, was ich jetzt in einer höchst erstaunlichen Weise vollendet sehe, was nämlich höchste Vollendung in allen Teilen zeigt, so dass nichts zu wünschen übrigbleibt.

In Wahrheit ist es ein Werk von solcher Vollkommenheit, dass meine Sehnsucht es überhaupt nicht erreichen kann.

ARTHUR SCHOPENHAUER: EIN GENIE

Er ist ein Mensch, in dessen Kopf die Welt als ein Objekt der Imagination größere Helligkeit und eine vollkommenere Gestalt erhalten hat.

Ein Genie ist unter anderen Menschen wie ein Karfunkel unter den Edelsteinen, der sein eigenes Licht ausstrahlt, während die anderen nur das Licht reflektieren, das sie erhalten haben. Der Künstler lässt uns die Welt mit seinen Augen sehen. Es ist die besondere Gabe des Genies, dass er diese Augen hat, die das Wesen der Dinge jenseits aller Beziehungen erkennt.

VITTORIA COLONNA DAS GENIE MICHELANGELOS

Li effetti vostri excitano a forza il giuditio de chi li guarda et per vederne più exsperientia parlai de accrescer bontà alle cose perfette. Et ho visto che omnia possibilia sunt credenti. Io ebbi grandissima fede in Dio, che vi dessi una gratia sopranatural a fare questo Christo: poi il viddi sì mirabile, che superò in tutti I modi mia exspettazione poi, fatta animosa dalli miraculi vostri, desideriai quello che hora meravigliosamente vedo adempito, cioè che sta da ogni parte in summa perfectione, et non se potria desiderar più, né gionger a desiderar tanto.

A Vostro Commando!
La Marchesa de Pescara

VITTORIA COLONNA EINZIGE GANZHEITLICHE DEFINITION Des GENIUS MICHELANGELOS
VITTORIA COLONNA DEFINIERT DEN GENIUS MICHELANGELOS am konkreten Beispiel der Zeichnung des Lebendigen Christus am Kreuz.

Trustee: Casa Buonarroti – Nr.508 ABIX
Wiedergabe mit schriftlicher Genehmigung des Museums
VITTORIA COLONNA UND MICHELANGELO EXPRESSIVE BRIEFE ÜBER GEGENSEITIGE FRUSTRATIONEN 1542/1543

DANKENSWERTE PHOTOGRAPHISCHE WIEDERGABE DER VERSCHOLLENEN ZEICHNUNG
KUNSTHISTORISCHES MUSEUM WIEN

Irgendwann im Jahr 1543 schrieb Michelangelo diesen Brief an Vittoria Colonna:

Bevor ich die Sachen, die mir Eure Magnifizenz verschiedene Male geben wollten, annehme, wollte ich für Euch etwas mit meiner eigenen Hand anfertigen, um weniger unwürdig des Empfangs solcher Geschenke zu sein. Nachdem ich aber erkannt und eingesehen habe, dass man die Gnade Gottes nicht kaufen kann, und dass es die größte Sünde ist, sie gering zu achten, bekenne ich mich zu meiner Schuldigkeit und nehme besagte Dinge gerne an. Und ich weiß sicher, dass ich mich, wenn ich sie besitze, wie im Paradiese fühlen werde, aber nicht, weil ich diese Dinge in meinem Hause haben werde, sondern weil ich in Eurem Haus weilen kann. Dafür werde ich mich Eurer Herrlichkeit, der ich mich empfehle, mehr verpflichtet fühlen: wenn ich mehr sein kann als ich bin. Der Überbringer dieses Briefes ist Urbino, der bei mir lebt. Ihm können Eure Herrlichkeit sagen, wann Sie wollen, dass ich komme, um mir den Kopf Christi anzusehen, den mir Euer Gnaden zu zeigen versprachen.

Der Diener Eurer Herrlichkeit
Michelagniolo Buonarroti
bei Macello de Covi

VITTORIA LÄSST MICHELANGELO HÖFLICH ABBLITZEN in IHREM ANTWORTBRIEF 20. Juli 1543

In einem hochstilisierten, ausnahmsweise datierten Brief, schrieb sie ihm aus dem Kloster SANTA CATERINA in Viterbo, in dem sie zwei Jahre lang lebte, als einziges weibliches Mitglied der exklusiven religiösen Gemeinschaft der Spirituali unter der Ägide von Kardinal Reginald Pole:

Magnifico Messer Michelangelo,
nicht eher habe ich auf Eurem Brief geantwortet, da er, so zu sagen, eine Antwort auf den meinigen war, und ich meinte, fahren Ihr und ich fort, uns zu schreiben, wie es meiner Verpflichtung und Eurer Höflichkeit entspricht, so wird es notwendigerweise soweit kommen, dass ich die Kapelle der Heiligen Katharina zu besuchen versäume und mich nicht mehr zur gewohnten Stunde in Gesellschaft dieser Schwestern befinde und dass Ihr den Besuch der Kapelle des Heiligen Paulus aufgebt, statt schon im Morgengrauen, von Tagesanbruch an, süße Zwiesprache mit Euren Malereien zu halten, die mit ihren eigenen Lauten genauso zu Euch sprechen, wie die mich umgebenden lebenden Personen zu mir, so dass ich meine Pflicht den Bräuten Christi gegenüber versäume und Ihr die Eure dem Stellvertreter Christi gegenüber.
Vielmehr, scheint es mir besser zu sein, bereiten Gemütes eine wirkliche Gelegenheit, Euch zu dienen, abzuwarten und ich bitte den Herrn, von dem Ihr mir bei meinem Abschied von Rom mit so glühendem und demütigem Herzen spracht, er möge mich bei meiner Rückkehr Euch finden lassen, sein Bild in Eurer Seele so erneuert und so lebendig im wahren Glauben, wie Ihr es in meiner Samariterin gemalt habt.
Und immer empfehle ich mich Euch und Eurem Urbino.
Aus dem Kloster von Viterbo, am 20. Juli,
zu Eurem Befehl!
Die Marchesa von Pescara

VITTORIA COLONNAS FATALER ANTWORTBRIEF an MICHELANGELO 20. JULI 1543

Autografo in Casa Buonarroti, Florenz, AB XI, No 510
Wiedergabe mit dankenswerter Erlaubnis des Museums
VITTORIAS KÜHLE SELBSTVERWAHRUNG gegenüber MICHELANGELOS AUFDRINGLICHKEIT und SEINE SENSIBLE REAKTION

Mit höflicher Bemäntelung und vernünftiger Argumentation wies Vittoria Michelangelos Aufdringlichkeit zurück, indem sie ihre Korrespondenz mit ihm einschränkte mit der Begründung, dass der Briefwechsel sie und ihn von wichtigen Verpflichtungen ablenke. In brillanter Rhetorik führt sie aus, dass die Perspektiven ihrer Lebensverläufe, statt zu interagieren und sich gegenseitig zu beeinflussen, parallel zueinander verlaufen sollten, ausgerichtet auf wichtigere Ziele. Statt ständig persönlichen Kontakt zu suchen, sollte der Künstler lieber mit seinen Gemälden in der Paulinischen Kapelle Zwiesprache halten.

Offensichtlich hatte Vittoria im Sinn, ihre für sie ungemein wertvolle win-win Freundschaft mit Michelangelo distanzierter zu gestalten. Ihre Freundschaft bedürfe nicht eines Bombardements von Briefen. Sie sollten außergewöhnliche persönliche Begegnungen vorziehen, schlug sie ihm in ihrem Brief vor.

Vittoria Colonna verwahrte sich gegen belastende Intimität und emotionale Verstrickung.

WIE REAGIERTE MICHELANGELO?

Seine Gedichte, die sein Innerstes in Worte hauen, als wären sie Steine, machen sein Leiden an zurückgewiesener Liebe evident.

Noch schlimmer als an ihrer kühlen Distanzierung von seiner Person litt Michelangelo, der in seiner Beziehung zu Vittoria Colonna Sensibilität offenbart, die an ihm bisher nie beobachtet wurde, an den Stimmungsumschwüngen seiner geliebten Marchesa, die wahrscheinlich von ihrer manischen Depressivität herrührten und sich in ihrer schweren psychischen Krise in Viterbo intensivierten.

 

Vittoria beschreibt in subtiler Selbstbeobachtung
den Zustand der manischen Depression
in einem Brief an Kardinal GIOVANNI MORONE:

Eure Magnifizenz haben mein Chaos an Ignoranz und Irrtum erlebt, das Labyrinth, in dem ich mich bewegte, gekleidet in glitzerndes Gold, mit meinem Körper in ständiger Bewegung, ohne innerlich zur Ruhe zu kommen und mit meinem Geist in Aufruhr.

Michelangelo reagierte auf Vittorias Bipolarität mit erstaunlicher Sensibilität, die er dichtend verarbeitete. Liebevolle Fürsorge, die sie ihm hin und wieder schenkte, weiteten sein Herz, das sich wieder schmerzlich verengte, wenn sie ihn zurückwies.

 

  MICHELANGELO SONETT für VITTORIA COLONNA   Nicht weniger, Herrin, tötet große Huld einen, den Diebstahl an den Galgen bringt, jeglicher Hoffnung beraubt, in jeder Vene zu Eis erstarrt, wenn plötzlich Rettung kommt, die ihn befreit.   Wenn ähnlich Deine Huld mehr als sie je zu tun pflegte, mich in meinem Elend voller Kummer mit reichem Mitleid erheitert, scheint sie mir stärker als Weinen Leben zu entziehen.   So kommt aus neuen Bitternissen oder auch aus der Süße, eben aus ihrem Gegensatz, augenblicklich der Tod, weil sich das Herz allzu sehr weitet oder zusammenzieht.   Das ist die Wirkung Eurer großen Schönheit, die Liebe und der Himmel schufen. Wenn Ihr wollt, dass ich weiterlebe, zügelt die große Wonne. Solch eine herrliche Gabe kann für die zerbrechliche Seele den Tod bedeuten.    

Zuwendung, gefolgt von Abneigung, Wohlwollen, wechselnd mit Verweigerung,

dieses Auf und Ab und Hin und Her lähmt Michelangelos Kunst

  MICHELANGELO SONETT AN VITTORIA COLONNA   Nicht den besten Künstlern fällt ein Konzept ein, das nicht in einem Steinblock verborgen liegt, mit überflüssiger Materie darum herum. Der Idee kann sich nur die Hand nähern, der sich der Intellekt unterordnet.   Das Übel, das ich fliehe und das Gute, das ich mir verspreche, verbergen sich in Euch, anmutige, erhabene, göttliche Herrin und, weil ich nicht mehr lebendig bin, widersetzt sich die Kunst der ersehnten Wirkung.   Darum ist nicht Liebe, noch Eure Schönheit, noch Härte, noch Fügung, noch die große Verschmähung an meinem Übel schuldig oder mein Schicksal oder Geschick,   wenn Ihr zu gleicher Zeit in Eurem Herzen Tod und Huld vereint und mein kleiner Geist, verglühend, sich davon nichts anderes als den Tod zu holen weiß.
MICHELANGELO NEUE ZEICHNUNGEN VON PAAREN in GESTÖRTEN BEZIEHUNGEN

Photographische Wiedergabe der Zeichnung im Privatbesitz
mit dankenswerter Freundlichkeit des Kunsthistorischen Museums, Wien

In seinen Zeichnungen von Paaren in den vierziger Jahren, die von Michael Hirst als exploratory drawingscharakterisiert wurden, visualisiert Michelangelo mittels ihrer Körpersprache gespannte Beziehungen von Paaren, suggeriert Gefühllosigkeit, Ambivalenz, in die Leere gesprochene Worte, Zurückscheuen vor der Annäherung des anderen, deutet Umarmungen an, die unausgeführt bleiben wegen spürbarem Widerstand oder gehemmter Zuneigung.

Als Geschenkzeichnung für Vittoria Colonna zeichnete Michelangelo die Begegnung Jesu mit der Samariterin am Brunnen, die von Vittoria verkörpert wird. In einem Brief an ihn schrieb Vittoria:

Bei meiner Rückkehr möge Gott mich Euch antreffen lassen mit seinem in Eurer Seele erneuertem Bild dank eines lebendigen und wahren Glaubens, wie Ihr ihn in meiner Samariterin gezeichnet habt.

Falls sich Vittoria auf die gleiche Zeichnung bezog, verfehlte sie die tiefere Botschaft: Michelangelos Samariterin spitzt bestenfalls die Ohren. Aber sie äußert keineswegs tiefe Gläubigkeit. Der Künstler stellt sie dar, wie sie sich nach dem Wasser Schöpfen zum Weggehen anschickt. Die Bewegungen ihrer Hände betonen ihre Abwendung vom Herrn. Sie reagiert nicht auf seine Gesten. Nur eine letzte Wendung ihres Kopfes in seine Richtung, als kühler Abschiedsgruß beabsichtigt, verhindert das völlige Fehlschlagen seiner ihr zugewandten Gesten.

 

 

MICHELANGELO FRUSTRIERT VITTORIA COLONNA. IHRE SONETTE LASSEN IHN KALT

 

Von den drei CANZONIERI ihrer Sonette, die sie in den vierziger Jahren autorisierte, widmete sie eine Sonettsammlung Michelangelo:

 

MICHELANGELOS RESPONS das kleine Buch im Samteinband“

 

In einem Brief an seinen Neffen Leonardo erwähnte Michelangelo Vittorias Geschenk, weil ein befreundeter Priester der Kathedrale Santa Maria del Fiore die Sonette zu lesen wünschte:

Sie gab mir ein kleines Buch mit einem Einband aus Samt vor zehn Jahren als Geschenk. Das Buch enthält 103 Sonette ohne die vierzig Sonette, die sie mir von Viterbo in carta bambagina sandte. Ich ließ diese Sonette in das gleiche Buch einbinden. Ich zeigte das Buch vielen Personen. Alle Sonette sind gedruckt.

Wenn Leute dennoch das Buch ausleihen wollten, weigerte sich Michelangelo und gebrauchte Ausreden, wie die folgende: „Ich werde das Buch nicht senden, weil ich erst Kopien anfertigen will.“ Er hielt ihr Geschenk in Ehren.

Aber im Gegensatz zu Pietro Bembo, dem führenden Literaten, der einzelne Sonette von Vittoria Interpretierte, stattete Michelangelo ihr seinen Dank in Form eines üblichen Sonettes ab, wie es in humanistischen Kreisen Gang und Gäbe war. Er hätte Vittoria gern ein adäquates Sonett gewidmet. Aber natürlich konnte er sich mit ihr nicht messen.

MICHELANGELOS DANK-SONETT an VITTORIA COLONNA für das GESCHENK IHRES CANZONIERE   Um Eures unermesslich gütigen Geschenkes weniger unwürdig zu sein, hohe Herrin, habe ich mich mit meinem ganzen Herzen und mit meinem bescheidenen Talent an einer Erwiderung versucht.   Aber dann sah ich ein, dass zur Erlangung eines gleich hohen Zieles meine eigene Kraft nicht genügt, um mir den Weg dorthin zu erschließen. Für meine dreiste Kühnheit, erbitte ich Verzeihung und mit jeder weiteren Stunde werde ich mir meines Versagens stärker bewusst.   Und ich sehe wohl, dass es ein Irrtum wäre, zu glauben, die Gnade, die aus Euch Göttliches hervorsprießen lässt, werde auch meinem schwächlichen, fragilen Werk zuteil.   Der Geist, die Kunst, das Gedächtnis, geben sich geschlagen, denn eine göttliche Gabe kann nicht mit tausend eigenen Versuchen erwidern, wer sterblich ist.
MICHELANGELOS DANKSONETT Für ihren CANZONIERE Zwischen den Zeilen gelesen!

 

Im Gegensatz zu seinen authentischen Gedichten an sie, die seine, ihn überwältigenden Gefühle verarbeiten, die jeden Rahmen sprengen, erscheint dieses Dankessonett eher gekünstelt und gestelzt. Der Superlativ „unermesslich gütig“ ist übertrieben, die Triade der Geist, die Kunst, das Gedächtnis ist überladen. Noch peinlicher sind die tausend Versuche an einer Erwiderung, die er nicht unternahm. Das Eingeständnis seines Versagens erspart ihm die Mühe, sich in ihre Sonette zu vertiefen. Im Vorhinein gibt er sich geschlagen.

War es Mangel an Interesse, das sich hinter Michelangelos Wortschwulst verbirgt? Er war in Vittoria verliebt, weniger in ihre Sonette.

Nicht die Lektüre ihrer Sonette sprach ihn an, sondern ihre persönliche Nähe, in der verweilen zu dürfen, er als paradiesisch beschrieb. Seine künstlerische Imagination entzündete sich an ihrer Schönheit. Er musste sie sehen. Jedoch er konnte sie nicht oft genug sehen. Ihre Distanziertheit frustrierte ihn. Er litt unter der räumlichen Trennung von ihr. Anschauung ihres schönen Gesichtes intensivierte seine Lebendigkeit.

Michelangelo sandte ihr seine Liebesgedichte zuhauf! Sie sandte ihm ihre Liebes Sonette nicht, weil sie an ihren verblichenen Gatten gerichtet waren. Die beiden großen Poeten traten nicht, wie behauptet wurde, in einen ehrgeizigen Poetry-Slam. Beide waren zu ernsthaft, um Poetisieren als ein ästhetisches Gesellschaftsspiel zu betrachten. Michelangelo und Vittoria Colonna schufen ein unvergängliches poetisches Werk. Ihrer beider Dichten war authentisch-expressiv. Es entsprang einer existentiellen Notwendigkeit, ihr Inneres Selbst zu artikulieren.

„Michelangelo war leidenschaftlich in die Marchesa von Pescara verliebt“, schrieb Condivi. Als Dichter gab er seiner leidenschaftlichen, aber letztlich frustrierten Liebe zu Vittoria Colonna aufwühlenden Ausdruck.

Trotz ihres manchmal herablassenden Gehabes, das sie sich ihm gegenüber als Aristokratin schuldig zu sein glaubte, war Vittoria Colonna nicht nur von Michelangelos Kunst, sondern auch von seiner genialen Persönlichkeit geradezu hingerissen.

 

Unico Maestro ed Mio Singolarissimo Amico

 

Vittoria war Michelangelos Sibylle, die ihn von seiner Sinnlichkeit befreite und durch Wasser und Feuer in einen heiteren, lichten Tag entrücken sollte, ja ihn sogar verwandelte:“ Ein Modell von minderem Wert wurde ich durch Euch vollkommener.“

Dank ihrer männlichen Intelligenz und ihrer leicht androgynen Gesichtszüge, verkörperte Vittoria Colonna Michelangelos Ideal des Menschen, der männliche und weibliche Eigenschaften in sich vereint. Seine Marchesa war für ihn ein Mann in einer Frau, also ein Gott:

 

UN UOMO IN UNA DONNA, ANZI UNO DIO
VITTORIA COLONNA MICHELANGELOS ÜBEREIFRIGE MUSE transferiert HÄRETISCHE SPIRITUALITÄT von VITERBO in den VATIKAN und nimmt Einfluss auf MICHELANGELOS BEKEHRUNG DES HEILIGEN PAULUS in der PAULINISCHEN KAPELLE

 

VITTORIA Colonna
in VITERBO

Von Oktober 1541 bis November 1543 lebte Vittoria Colonna in Viterbo im Nonnen Konvent Santa Caterina als einziges weibliches Mitglied der exklusiven religiösen Gemeinschaft der Spirituali, die sich um die charismatische Persönlichkeit Reginald Poles scharte, des späteren Erzbischofs von Canterbury und aussichtsreichsten Kandidaten für den Heiligen Stuhl im Konklave 1549.

Die Spirituali waren Anhänger des Juan de Valdes, des noblen spanischen Höflings und Mystikers, der in Neapel lebte und Anhänger unter der Italienischen Hocharistokratie fand. Gemäß Valdes entzieht sich der lebendige Glaube dem menschlichen Willen. Innerer Glaube ist ein Geschenk des Heiligen Geistes, der bekanntlich weht, wo er will.

Als Dichterin von Rime Spirituali identifizierte Vittoria Colonna diese Gnade der, erwählten Seelen eingegebenen, göttlichen Präsenz mit ihrer dichterischen Inspiration:

 

VITTORIA COLONNA VON DEM GÖTTLICHEN FEUER, DAS MEINEN INTELLEKT ENTFLAMMT ENTSPRINGEN DIESE FUNKEN.  

Die Infiltration der Bekehrung des Heiligen Paulus mit der Spiritualität von Viterbo, trägt die Signatur Vittoria Colonnas, die gemäß Vasari von Viterbo aus Michelangelo oft in der Paulinischen Kapelle besuchte, wie sie ihn zuvor in der Sixtinischen Kapelle besucht hatte, als er das Jüngste Gericht schuf:

Michelangelo gestaltete die Bekehrung des Heiligen Paulus als eine innere Erfahrung und als eine persönliche Entscheidung des späteres Apostels Jesu Christi. Gott thront nicht in der Glorie seiner göttlichen Allmacht hoch am Himmel in diesem spektakulärsten Spektakel äußeren göttlichen Eingreifens in der Bibel. Der Herr beugt sich tief herab zu Saulus, als ob er ihm auf menschlichem Niveau begegnen wollte, während Saulus mit geschlossenen Augen noch ausgestreckt auf der Erde daliegt, als sich der göttliche Lichtstrahl bereits in ein diffuses Licht verflüchtigt hat, wie wenn seine Bekehrung noch im Gange sei oder, als ob er noch nicht zu seinem lebensentscheidenden Entschluss gelangt sei, dem Christengott zu dienen.

Michelangelos Bekehrung des Heiligen Paulus ist nicht die automatische Konsequenz einer Indoktrination von oben in einem Spektakel göttlicher Allmacht, sondern ein innerer geistig seelischer Prozess, in dessen Verlauf Paulus als ein auf sich gestelltes Individuum der Renaissance die persönliche Entscheidung trifft, in den Dienst des Christengottes zu treten.

 

NEGATIVE AUSWIRKUNGEN des NARRATIVEM SUBSTRATS VITTORIA COLONNAS: SCHÖNHEIT UND DRAMATISIERUNG fehlen MICHELANGELOS BEKEHRUNG DES HEILIGEN PAULUS.

 

Gemäß Sidney Friedberg zeigen die Fresken Michelangelos in der Paulinischen Kapelle, Michelangelos letzte Gemälde, „einen Stil, der sich von der künstlerischen Wirkung abkehrt im ausschließlichen Interesse an der Ausgestaltung des narrativen Substrates ohne Beachtung der Schönheit.“

Michelangelos großartiges Fresko der göttlichen Indoktrination des Paulus durch den allmächtigen Gott, der in flammendes Rot gewandet, seinen Lichtstrahl auf Saulus schleudert, wurde eindrucksvoll begonnen, aber nicht michelangelo-esque beendet.

Michelangelos Fresko fehlt die Dramatisierung der Szene durch Caravaggio (1601), der den Augenblick der religiösen Ekstase des Paulus in seiner Hingerissenheit vom göttlichen Lichtstrahl eingefangen hat, unmittelbar, nachdem Saulus vom Pferd gefallen ist, das noch über ihm steht, im entscheidenden Augenblick, in dem er vom Lichtstrahl getroffen wird, während Michelangelo, Vittoria gehorchend, den dramatischen Lichtstrahl in ein diffuses Licht aufgelöst hat und Paulus in seiner Gedankenverlorenheit darstellt, während sein Pferd bereits  von seinen Weggefährten weggeführt worden war.

Noch ein Unterschied ist bemerkenswert: Caravaggios Entvölkerung der Szene und seine gestalterische Konzentration auf die Hauptfigur des dramatischen Geschehens, unmittelbar, nachdem er vom Blitz getroffen worden war, während Michelangelo den Schauplatz mit Menschen, Engeln, auserwählten Spirituali aus Viterbo überfüllt und die römischen Weggefährten unten nur noch moderate Schockreaktionen zeigen, weil Michelangelos übereifrige Muse den Künstler anwies, die Bekehrung des Heiligen Paulus als seinen inneren Prozess seiner persönlichen Entscheidungsfindung darzustellen, der sich nicht visualisieren ließ. und sich auf die bloßen Nachwirkungen eines der erregendsten göttlichen Spektakel der Bibel zu beschränken.

Die Fresken in der Paulinischen Kapelle sind die letzten Gemälde Michelangelos, der im Alter von 74 Jahren als Architekt die Bauleitung der Peterskirche übernahm und diese hohe Verantwortung bis zu seinem Tod im Alter von 89 Jahren in seiner Hand behielt. Er überlebte Vittoria Colonna um siebzehn Jahre.

VITTORIA COLONNA LETZTER BRIEF AN MICHELANGELO UNTERPFAND FÜR ZUKÜNFTIGE WERKE

Trustee: Casa Buonarroti, Florenz, AB IX, No 509, autograph
Mit schriftlicher Erlaubnis der Abbildung des Museums

Magnifico Messer Michelangelo

So groß ist der Ruhm, der Euch durch Eure virtù zuteil- geworden ist, dass Ihr vielleicht nicht geglaubt habt, dass der Ruhm im Laufe der Zeit oder aus einer anderen Ursache vergehen wird, hätte nicht das göttliche Licht Euer Herr erfasst, das Euch zeigt, dass weltlicher Ruhm, obwohl er lange währen kann, seinen zweiten Tod findet. Wenn Ihr in Euren Skulpturen SEINE Freundlichkeit erkennt, der Euch zu dem einzigartigen Meister gemacht hat, dann werdet Ihr verstehen, dass ich meine toten Schriften dem Herrn allein verdanke, weil ich ihn weniger beleidigte, als ich sie abfasste, als jetzt, wo ich im Müßiggang nichts tue.

So bitte ich Euch, Eure Tüchtigkeit (virtù) als ein Unterpfand für künftige Werke zu akzeptieren.

Zu Eurem Befehl!

Die Marchesa von Pescara

INTERPRETATION

Im Gegensatz zu ihren anderen Briefen hat Vittoria Colonnas letzter Brief an Michelangelo keinen konkreten Anlass. Sie erlegt ihm kein neues narratives Substrat auf, das er in seiner Malerei oder seinen Zeichnungen berücksichtigen soll. Stattdessen spricht aus diesem letzten Brief tiefe Bewunderung für seinen Ruhm, den er seiner VIRTÙ verdankte, wobei sie virtù ganz im machiavellistischen Sinn verwendet. VIRTÙ bezieht sie nicht in erster Linie auf seine Kompetenz oder Rechtschaffenheit, sondern auf seine außergewöhnliche Selbstbehauptung, seine Willensstärke und sein Durchsetzungsvermögen, seine Tüchtigkeit, Tugenden, die sie als unerlässlich erachtet für die Verwirklichung seiner künstlerischen Vorhaben.

Obwohl Vittoria Colonna gegenüber Michelangelo auf verinnerlichter Spiritualität besteht als Gegengewicht, um dem Genius die innere Balance durch sein Bewusstsein der Hinfälligkeit irdischen Ruhmes zu bewahren, verrät sie im zweiten Abschnitt ihres Briefes ihren Neid auf sein selbstbestimmtes, aktives Leben in Rom, während sie immer noch in Viterbo in der Kommune der Spirituali lebt, in der sie gezwungenermaßen in Passivität dahinvegetiert. Sie kann sich nicht selbstbestimmt verwirklichen, weil Selbstverwirklichung nur als Geschenk des Heiligen Geistes akzeptiert wird, aber nicht als individuelle Eigenleistung.

Es verwundert nicht, dass die lebhafte Frau, die sich nach Aktivität sehnte, in einen Zustand der Seelendürre verfiel, umso mehr als der Heilige Geist in ihrer eigenen Seele nur durch Abwesenheit glänzte.

Vittoria Colonna, die sich stets zu der Authentizität ihrer Gefühle bekannte, thematisiert in keinem ihrer Sonette die Offenbarung Gottes in der menschlichen Seele, die von den Spirituali als Erfahrung verheißen wurde, sondern spricht immer nur als Sehnsucht, deren Erfüllung sie niemals erlebte:

É sereno dal bel lume il desio. HEITER AM SCHÖNEN LICHT IST (nur) die SEHNSUCHT.

Es scheint, als ob ihr letzter Brief an Michelangelo einer Ahnung entsprang, dass die Suche des Göttlichen nicht durch die Intervention des Heiligen Geistes gefunden wird, sondern dass sie nur als Sehnsucht dem Menschen zugänglich ist und sich nur ein Genie, wie Michelangelo, in seinen Werken dem Göttlichen nähern kann dank seiner einzigartigen virtù, die er, jedoch, nicht sich selbst verdankt, sondern der Freundlichkeit Gottes, „der ihn zum einzigartigen Maestro erschaffen hat“.

Ferner dämmert ihr die Erkenntnis, dass auch sie ihre eigenen toten Sonette dem Herrn allein verdankte und dass sie IHN nicht so sehr kränkte, als sie ihre Sonette dichtete, wie jetzt in ihrer Untätigkeit in einem passiven Lebensstil, der sie in Viterbo in Psychosen und Verzweiflung katapultierte.

Michelangelos Hang zur Selbst-Mythisierung mag seine Mentorin dazu gereizt haben, ihn der Illusion, ewige Kunstwerke zu schaffen, zu berauben, indem sie betonte, dass der Ruhm, den er seiner VIRTÙ verdankte, vergänglich sei ohne göttliche Erleuchtung und dass sein irdischer Ruhm, auch wenn er lange Zeit währen mag, einen zweiten Tod finden wird und nicht ewig währt.

Trotzdem bemisst sie der VIRTÙ im machiavellistischen Sinn hohen Wert bei in ihrem letzten Satz, den sie an Michelangelo geschrieben haben mag:

 

Et ve vogliate aceptar questa voluntà  per arra de l´opere future

 

VITTORIA COLONNA POETISIERT IHRE RENAISSANCE WENDE von SPIRITUELLER ABGESCHIEDENHEIT in Viterbo zurück zur VITA ACTIVA in ROM 1543

 

VITTORIA COLONNA Tempo è ch’ io ZEIT ist es für mich.

 

Allein schon der Titel ZEIT IST ES, DASS ICH enthüllt Vittoria Colonnas U-Turn von ihrer Jenseitsorientierung zurück in die VITA ACTIVA im Diesseits.

TEMPO È wurde zurecht als eines ihrer größten Sonette eingeschätzt, weil sie in diesem Sonett ihre existentielle Umkehr poetisiert.

Michelangelo folgend, kehrte Vittoria Colonna dem scheinbar spiritualisierten Leben in Reginald Poles abgeschiedenen Zirkel in Viterbo den Rücken, weil sie statt der Erleuchtung durch den Heiligen Geist die erdrückende Untätigkeit einer geschlossenen Gesellschaft zwei Jahre lang durchlitten hatte, und kehrte in ihr aktives Leben als Aristokratin nach Rom zurück.

TEMPO È PUR ch´io

Die Dichterin, im gegürteten Gewand der Sibylle Michelangelos, ist allein, wie es einer Individualistin der Renaissance gebührt. Jedoch ist sie, wie die klugen Jungfrauen des Neuen Testamentes hell wach, aber sie ist nicht so geduldig.

Mit großer Ungeduld erwartet sie ihren himmlischen Bräutigam. Statt der flackernden Öl Lämpchen hält sie flammende Fackeln in beiden Händen, während sie begierig nach ihm in die ewige Nacht hinausspäht. Doch er verspätet sich.

Plötzlich, abrupt, kehrt die Dichterin in das Diesseits zurück in einer U-Turn, die offensichtlich durch einen Stimmungsumschwung verursacht wurde, weil ihr plötzlich ein neuer Gedanke in den Sinn kam, der ihr zuvor nie eingefallen war, obwohl die intellektualisierte Aristokratin der Renaissance in ihrem irdischen Leben alle denkbaren Wege der Gotteserkenntnis erforscht hatte. Ist es nicht möglich, dachte sie, dass Jesus ihren Weg in diesem irdischen Leben kreuzen und sie ihn übersehen könnte?

Für die Dichterin der Renaissance mag das Zusammentreffen mit Jesus im Diesseits nach ihrer langen Abgeschiedenheit aufregender gewesen sein als ihr vergebliches Ausleuchten der ewigen Nacht mit Fackeln auf der Suche nach IHM. Hoch erfreut würde sie den Auftrag des Herrn annehmen, sein geistiges Imperium hier und jetzt in dieser Welt zu errichten.

VITTORIA COLONNA   Es ist Zeit, dass ich, in gegürtetem Gewand, mit gierigen Ohren und spähenden Augen und zwei lodernden Fackeln in den Händen, den lieben Bräutigam freudig und bald erwarte,   um ihn ehrfurchtsvoll und aufrichtig zu ehren, da ich im Herzen die anderen Begierden auslöschte und seine Liebe ersehne, aber auch seinen Zorn fürchte, falls er mich bei dem großen Bedarf nicht wach fände,   nicht, weil ich nur seine unendlichen Geschenke schätze und seine sanften, hochgemuten Worte, mit denen er mir fröhlich unsterbliches Leben anböte, sondern,   weil mich seine heilige Hand beauftragen könnte und er sagen müsste: „Da ist ja die Blinde, die unter so vielen klaren Strahlen ihre schöne Sonne nicht erkannte."
VITTORIA COLONNA Tempo è pur ch´io   Tempo è pur ch’io con la precinta vesta con l’orecchie e con gli occhi avidi intenti e con le faci in man vive ed ardenti aspetto il caro Sposo e lieta e presta   per onorarlo reverente onesta, avendo al cor gli altri desire spenti, e brami l’amor suo, l’ira paventi, sì ch’l mi trovi al gran bisogno desta.   Non ch´io sol prezzi i Suoi doni infiniti E le soave Sue alte parole, onde vita immortal lieto m‘offerse.   Ma perché la man santa non m´additi, dicendo: “Ecco la Cieca che non scoverse fra tanti chiari raggi il suo Bel Sole.”

TRUSTEE: BRISTISH MUSEUM, LONDON. AN 18318001
Wiedergabe by courtesy of the British Museum